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Mein Kind is(s)t „gschnäderfrässig“

DigitalErnährungPsychologieRonia Schiftan
Kinderernährung: Was tun, wenn ein Kind nichts Neues probieren will?

Kinderernährung: Was tun, wenn ein Kind nichts Neues probieren will?

Kinder sind sehr verschieden, die einen Kleinen probieren sich gerne durch Neues durch, andere sind da eher vorsichtiger oder verweigern Neues kategorisch. Dies hat auch evolutionäre Vorteile, Nahrung, die getestet wurde, wurde als gut, sicher und nahrhaft empfunden, reichte also zum Überleben*. Es gibt nun ein grosses Spektrum vom „Nichts Neues probieren wollen“, gewisse Kinder scheuen sich vor bestimmten Konsistenzen, Texturen, vor bestimmten Gefühlen im Mund oder auch optischen Sinneseindrücken («sieht komisch aus»). Andere Kinder wiederum scheuen „extreme“ und „unerwartete“ Geschmäcker, wie Säure, Bitterstoffe oder auch stark gewürzten Speisen.  Wieder andere reagieren auf den (oft sehr unabsichtlich) ausgeübten Druck der Grossen «Probier mal, doch probier, es ist fein, probier!» und reagieren diesem entsprechend mit Ablehnung, Schutz (verweigern) oder Wut (kämpfen). Wenn ich die Frage versuche zu beantworten merke ich, dass ich daraus locker ein  Buch füllen könnte 😊. Ich versuche es mal hier etwas kürzer:

Was kann ich als Grosse (hier sind Bezugspersonen und Erwachsene aller Rollen gemeint) tun?

Wichtigste Haltung hier: Druck rausnehmen. Kinder reagieren auf Druck sehr sensibel und meist spielt sich da viel Familiendynamisch ein. Jede Handlung, die potenziell Druck erzeugen könnte, darf also ganz systematisch hinterfragt werden. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir als Erwachsene unsere Haltung reflektieren.

Was sind meine Motive warum mein Kind mehr Essen probieren sollte?

Bespiel: «Es ist doch langweilig immer das Gleiche zu essen» Gegenfrage: «Warum? Das Kind mag es ja offensichtlich?»

Warum möchte ich das mein Kind mehr Essen probiert?

Beispiel: «Ich habe Angst, dass mein Kind Dinge verpasst und sich nicht weiterentwickelt!» Gegenfrage: «Entwickelt sich dein Kind in anderen Bereichen seines Lebens gut? Gibt es konkreten Grund zur Sorge und braucht es eine Fachperson an der Seite? Oder bezieht sich diese Sorge «nur» auf das Essen? Was kann passieren, wenn das Kind gewisse Speisen erst im späteren Leben entdeckt?» Hier ist es wichtig, dass die konkrete eigene Sorge herausgearbeitet wird. Was ist meine Angst?

Welche Prägung von mir begleitet diese Momente?

Beispiel: «Aber es gehört sich doch so, dass man Neues ausprobiert!» Gegenfrage «Warum? Wer sagt das? Wer hat das in deiner (Erwachsenen) Biografie dir so gelehrt? Wie sind deine Erfahrungen als Kind mit diesem Thema? Wurdest du gezwungen auszuprobieren? Wurde eine «Gschnäderfrässigkeit» als verwöhnt angesehen, vielleicht sogar abgewertet? Hast du Sorge, dass dein Kind abgewertet wird?»

Welche Überzeugungen leiten deine Esserziehung?

Beispiel: «Mein Kind muss sehr gesund Essen. Es braucht alle Nährstoffe und die kommen nur in sehr abwechslungsreichem Essen vor.» Gegenfrage: «Kennst du die Blutwerte deines Kindes? Ist es vital, gesund und aktiv? Kommt es kognitiv mit und ist altersentsprechend entwickelt? Gibt es konkreten Grund zur Sorge, dass dein Kind mangelernährt sein könnte?»

Es ist absolut ok, wenn die Kinder nicht permanent neue Speisen und Geschmäcker probieren wollen. Das Kind entdeckt nach dem eigenen Rhythmus.

Diese Fragen darf ich mir als erwachsene Person stellen, sie klären meine konkreten Motive und mein Antrieb, warum dieses Thema im Alltag mit Kind überhaupt ein Konfliktpotential sein könnte. Viele Kinder sind absolut fit und gesund, auch wenn sie sich nur sehr einseitig und von wenig verschiedenen Lebensmitteln ernähren. Wenn ein Kind selbstgeleitet isst, also das wählt, was der Körper meldet, kommt es auf diese Nährstoffe, die es braucht und der Körper signalisiert. Es ist jedoch so, dass wir in einer Welt leben, in der eine Innenreiz-geleitete Ernährung sehr schwerfällt, Eltern steuern das Essverhalten der Kinder stark mit und «übersteuern»** damit unabsichtlicherweise die Innensignale. Damit kann sich das auf das Familiensystem auswirken, es ergeben sich Konflikte am Familientisch. Reibereien rund um die Essenswahl, Diskussionen und Verhandlungen. Meist ist dies ein Zeichen dafür, dass sich das Essen als praktischer Hebel für die Kinder ergeben hat ***. Zum anderen schadet eine Übersteuerung der Körperwahrnehmung****. Ein Kind, das die eigenen Innensignale gut wahrnehmen kann und dementsprechend zwischen Hunger, Sättigung und anderen Signalen unterscheiden kann, überisst sich nicht, isst das was gut tut und spürt sich.
Es ist jedoch auch wichtig zu beachten, dass es bestimmte Neurodiversitäten gibt, die zu einer sehr stark eingeschränkten Lebensmittelwahl führen. Dies müsste jedoch selbst verständlicherweise konkret durch eine Fachperson abgeklärt und begleitet werden.

Zusammengefasst

  • Also Druck rausnehmen. Übung: Was passiert, wenn ich mein Kind einfach mal frei wählen lasse? Keine Kommentare, keine Inputs?
  • Selbstreflektion: Was treibt mein Handeln an? Was sind meine Prägungen, Überzeugungen, Mythen rund ums Essen?
  • Welche Dynamik haben wir am Familientisch?

Und zum Thema noch ein weiterer Funfact

Der Mere-Exposure Effekt: Dieser erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit einen Reiz (Bespiel Geschmack) zu mögen steigt, wenn wir dem regelmässig ausgesetzt sind. Also eine Art Geschmacksgewöhnung erleben.

Dies versucht man sich in der Kinderernährung zu Nutze zu machen. Also regelmässig anbieten, ohne Zwang und Druck. So kann ein Kind die reine Geschmacksgewöhnung erfahren. Jedoch so einfach ist das nicht, denn schnell landet man in einem ambitionierten Plan «mein Kind muss es nur so oft probieren und dann mag es das.» Nein so ist es nicht und dann müssten wir alle Zeilen von vorhin löschen. Wichtiger als die Geschmacksgewöhnung ist also die entspannte Atmosphäre, die wohltuende Umgebungssituation beim Essen und das der Druck nicht vorhanden ist. Der Mere-Exposure Effekt erklärt jedoch, warum wir eine Geschmacksgewöhnung erleben und diese auch bis ins Erwachsenenalter entwickeln.

*Darum übrigens auch die grosse Vorliebe von Süssem. Dies aber ein andermal ausführlicher.

** Von «übersteuern» wird gesprochen, wenn ein physiologischer Reiz, also beispielsweise Hunger und Sättigung von der Kognition (vom Denken) beispielsweise Gewöhnung («es ist noch nicht 12 Uhr, da darf ich noch keinen Hunger empfinden») «überlagert»/ «unterdrückt» wird.

*** auch ein sehr spannendes Thema, dazu auch ein andermal mehr.

**** wie die gestärkt werden kann, braucht auch ein eigenes Thema.

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